November/Dezember 2003, VDE dialog, Nr. 6, 2003, S. 10-11
Zu: 13. Dresdner Palais-Gespräch „Ethik und Informationstechnik am Beispiel der Telemedizin“
Thomas Bencard
Telemedizin und Ethik
Beim 13. Dresdner Telemedizin-Gespräch, zu dem die Deutsche Gesellschaft für Biomedizinische Technik im VDE (DGBMT) gemeinsam mit weiteren Veranstaltern eingeladen hatte, diskutierten Experten über Möglichkeiten, Auswirkungen und Grenzen der Telemedizin: Welche Verantwortung tragen die Ingenieure?
Wie die Digitalisierung und Vernetzung die Gesellschaft verändert, lässt sich zugespitzt an den Folgen der Informations- und Kommunikationstechnik in der Medizin beobachten. Ärzte und Ingenieure, die medizinische Systeme entwickeln und einsetzen, stellt diese Entwicklung nicht nur vor technische, sondern auch vor ethische und moralische Fragen: Wie sind die Auswirkungen auf den Menschen? Verändert sich das Arzt-Patient-Verhältnis? Müssen wir den „gläsernen Patienten“ erwarten? Verändern neue Technologien die Sozialsysteme möglicherweise sogar grundsätzlich? Werden wir bald von intelligenten technischen Systemen beherrscht? Wo sind die Grenzen, wo müssen wir bremsen? Brauchen wir eine neue Ethik? Diese Fragen – und wohl auch der Stargast des Abends, der Informatiker Prof. Dr. Joseph Weizenbaum, emeritierter Professor vom Massachusetts Institute of Technology in Boston/USA – hatten über 230 Gäste nach Dresden gelockt.Wie die Zukunft in Operationssälen und bei der Krankenbetreuung bald aussehen könnten, beschrieben Dr. Wolfgang Niederlag vom Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt und Prof. Dr. Heinz U. Lemke von der Technischen Universität Berlin. Prof. Dr. Hans Lenk von der Universität Karlsruhe erkennt eine Gefahr darin, dass ,,immer komplexere und schwer überschaubare Systeme“ das Leben bestimmen: Die Anfälligkeit der ,,Gesellschaft für Risiken durch diese Komplexität“ wachse. Ethik-Codices haben deshalb für Ingenieure eine wachsende Bedeutung.Maschinen kennen keine menschlichen Bedürfnisse. Die Frage nach der Verantwortung spitzte Prof. Weizenbaum zu: Muss etwa ein Systemverantwortlicher, dessen Fehler ein komplexes technisches System in einem Krankenhaus lahm legen oder sogar eine Katastrophe verursachen kann, dafür genauso die Verantwortung tragen, wie ein Arzt für Kunstfehler? Weizenbaum wies auf zwei gegensätzliche Aspekte der Technik hin: Auf der einen Seite ermöglichen es Computer und medizinische Scannersysteme, Tumore früh zu erkennen und Leben zu retten. Eine andere Folge des High-Tech-Einsatzes sind für Weizenbaum ,,viele Tote, weil die Technik die Kosten der Medizin in die Höhe treibt und weil sich immer mehr Menschen in den USA eine teure medizinische Behandlung nicht mehr leisten können.“ Zudem, warnte Weizenbaum, „die Folgen von Technik lassen sich nicht sehr weit voraus sehen. Viele ärztliche Entscheidungen beruhen auf Erfahrungen und Bedürfnissen, die eine Maschine niemals haben kann.“ Den größten Erfolg wird die Telemedizin „bei einem niedrigen Grad der Verfügbarkeit medizinischer Dienste haben, z.B. in abgelegenen Regionen“, ist der Arzt und Medizininformatiker Prof. Dr. Otto Rienhoff von der Universität Göttingen überzeugt. Am Wirtschaftlichsten seien telemedizinische Systeme im Low-End-Bereich, während High-End-Verfahren zwar spektakulär aber teuer seien.Nach Meinung Prof. Rienhoffs behindern in Deutschland Qualitäts- und Regulierungsmechanismen eine größere Anwendung der Telemedizin und der Informationstechnik. Damit ließe sich etwa die Verschreibung von Medikamenten besser verfolgen. Telekonsultationen, d. h. die Einschaltung regional entfernter Experten durch Zweitmeinungssysteme, würden das medizinische Risiko senken. Als hinderlichen Faktor kritisierte Rienhoff, dass das jetzige Entgeltsystem für Ärzte die Informationsbeschaffung nicht honoriere. Manche Mediziner befürchteten andererseits, „ihr Wissen würde durch die Telemedizin entwertet“. Der Medizininformatiker warnte: ,,Technikfeindlichkeit kann unethisch sein!“
Mit einer sehr praktischen Sicht unterstützte diese These die Ärztin Prof. Dr. Elisabeth Steinhagen-Thiessen von der Humboldt Universität Berlin. Sie empfiehlt, Medizintechnik funktional und einfach zu gestalten und Anwender nicht als Kranke oder Behinderte zu stigmatisieren. Nicht die technische Lösung ist entscheidend, sondern die bedarfsgerechte Hilfe für den Kranken.